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2021

Briefe in die Zukunft

Literaturprojekt

Briefe in die Zukunft

Wir bringen zwei bisherige Zielgruppen intergenerativ sowohl wie interkulturell neu zusammen. Jede hat spezifische inhaltliche Wünsche auf Grund ihrer Erfahrungen in der Corona-Zeit. Die einheimischen Teilnehmer*innen der älteren Generation äußerten in einem früheren Projekt den Wunsch, Botschaften für eigene Kinder und Enkel zu hinterlassen. Für die Geflüchteten und die Teilnehmer*innen mit Migrationsgeschichte steht dagegen im Vordergrund die Suche nach einer zeitgenössischen Ausdrucksform, die sie über Grenzen hinweg mit anderen Menschen verbindet - und das in einer literarischen Form, die über das Niveau einer Alltagsnachricht in den sozialen Medien hinausgeht.

Beide Wünsche verbindet ihre hohe Authentizität als Zeitzeugen, die ihre Erfahrungen in der Isolation bearbeiten wollen: mehr Zeit daheim, eine nie dagewesene Lebenssituation, Zurückgeworfenheit auf das eigene Selbst, Sorgen um die Zukunft, aber auch Erfahrung des Home Office als Chance, Wahrnehmung des Werts zwischenmenschlicher Beziehungen über Distanzen hinweg. 

Schreiben in die Zukunft erhält durch Corona einen neuen Stellenwert. Deshalb wählen wir als Textformen den Brief und das Tagebuch aus. Beide werden in dieser Veranstaltungsreihe von kompetenten Workshopleiter*innen  als literarische Genres präsentiert, von Goethes Liebes-Briefen über das Tagebuch der Anne Frank bis zu den literarischen Blogs der "Kaffeehaussitzer".

Kogge-Autor*innen und Meisterschafts-Slammer*innen stellen eigene Blogs vor mit ganz vielen  Schreibtipps und -tricks in praktischen Übungen. Die persönliche Begegnung mit den Autor*innen ist für alle sehr bereichernd.

Wir bieten den Teilnehmer*innen an, anschließend ihre Texte auf den Poetry Slams in unserem Hause live vorzutragen. Und hier in unserem Digital Museum of Arts auf www.buezdigital.de werden alle entstandenen Texte wieder eine vielfältige spannende Sammlung mit Anthologie-Charakter bilden. Hier dokumentieren wir auch wieder den Projektverlauf.


ibk kubia

Regionale Kulturförderung OWL

Dr. Strothmann-Stiftung

BRIEFE AN MICH SELBST

Workshop mit Markus Neuert am 08.10.2021

Wo sehe ich mich in einer Woche? In einem Monat? In einem Jahr? Wer wagt den ganz großen Zukunftsentwurf für sich selbst? Welche Positionen kann das Ich angesichts der Pandemie-Erfahrungen, die es in den letzten anderthalb Jahren machen musste, überhaupt noch einnehmen? Wieviel erscheint planbar? Diese Fragen haben wir im Gespräch und in Briefen an unser eigenes Ich zu klären versucht.

Wo komme ich her, wo gehe ich hin?

Orte in meinem Leben bestimmen meine Entwicklung, natürlich nicht nur. Aber es ist ein Unterschied, ob ich in einem Dorf, einer Gr0ßstadt, in Amerika oder in Indien aufwachse.

Es ist ein Unterschied, ob ich in beengten Wohnverhältnissen oder auf dem Lande groß werde.

Ziel ist es, einmal zu überblicken, welche Orte bin ich in meinem Leben durchlaufen und wie prägten sie mich. Ferner: Wie sollen meine nächsten Orte in meinem Leben aussehen, was sind meine Ziele?

Alternativ könnte man auch anders vorgehen:

Wie wäre es, wenn…

Ich geboren wurde als Sohn, Tochter von Platon, Napoleon, Queen Elizabeth, Donald Trump…. So als Beispiele genannt.

Welche Orte hätte ich erlebt, wie wäre meine Kindheit, Jugend, verlaufen? Wo stünde ich heute?


JA, WAS GLAUBST DU DENN?

Workshop mit Volker Papke-Oldenburg am 17.09.2021

Den September-Termin aus der Reihe „Briefe in die Zukunft“ leitete der ehemalige Religions- und Philosophielehrer Volker Papke-Oldenburg unter dem Motto „Was glaubst denn Du?“

Die Teilnehmenden am Workshop, die sich wieder einmal aus einer recht bunten Mischung  verschiedener Herkunftsnationen, Religions- und Altersgruppen zusammensetzten, stellten sich zu Beginn kurz vor und waren alle gespannt auf den Verlauf dieses interreligiösen Nachmittags in BÜZ, der zuvor wie gewohnt von Peter Küstermann mit einer freundlichen Begrüßung und dem Neuesten aus dem Corona-Verordnungsdschungel eröffnet worden war.

Volker Papke-Oldenburg führte als Einstieg ins Thema einen kurzen Film vor, in welchem zufällig ausgewählte Leute auf der Straße zu ihrer Einstellung zum Glauben befragt wurden. Die Ergebnisse klafften nicht unbedingt so weit auseinander, wie man eventuell hätte vermuten können: neben einer einzigen Totalablehnung gab es viele untereinander anschlussfähige Positionen, die von „irgendetwas gibt es es schon da oben“ bis zu Gott als übergeordneter anrufbarer Ebene reichten. Die Teilnehmenden stiegen gleich kontrovers in die Diskussion darüber ein: während die einen die Antworten der Passanten eher indifferent fanden, erschienen sie anderen wiederum recht klar: eher werte- als dogmenbasiert, egal, ob es sich etwa um Christen oder Muslime handelte.

Papke-Oldenburg stellte die etwas provokante Frage, ob man denn überhaupt an nichts glauben könne. Die Teilnehmenden berichteten daraufhin von teils sehr persönlichen Erfahrungen, die sich letztlich über die ganze Bandbreite philosophischer, religiöser und esoterischer Einlassungen zum Thema erstreckten, auch wenn das vielleicht gar nicht allen so genau bewusst war: das Dao als weiblich-männliche Wesenseinheit kam ebenso zur Sprache wie die Feuerbachsche Gottesdefinition als menschliche Projektion, Seelen, Schutzengel oder Nahtoderlebnisse als Reflexion der eigenen Geburt. Ein vorläufiges amtliches Endergebnis kann es freilich bei solchen Diskursen nicht geben, doch auch wer nicht an Gott glaubt, benötigt etwas, das bewegt und trägt, und sei es nur die soziale Funktion von Gesetzen.

In einer zweiten kurzen Filmeinspielung wurden Passanten befragt, was ihnen spontan zum Thema Islam einfalle: Kopftuch, Jugendliche ohne Ausbildung, Radikalismus, falsches Religionsverständnis, IS-Terror, Nine-Eleven lauteten die Antworten. Einer war ganz ratlos und googelte Islam erst einmal auf seinem Smartphone. Die offensichtliche Einseitigkeit und Unkenntnis der Befragten rief nicht nur die Muslime unter den Anwesenden auf den Plan. Die mediale Vermittlung sei vorwiegend negativ, niemand von ihnen sei strenggläubig, umgekehrt wiesen die Deutschstämmigen teils auch auf christlichen Extremismus von Kreuzzügen, Kolonisation und Hexenverbrennung bis hin zu zeitgenössischen Fundamentalchristen aus dem Bible Belt in den USA hin. Manche waren auch erschrocken über ihre eigenen reflektierten Vorurteile und Gefühle.

Nun ging es in die Schreibphase: zwanzig gedrängte Minuten für einen Brief an oder über Gott, Glaube und Religion. Die anschließend vorgetragenen und besprochenen Ergebnisse waren so vielfältig wie die Inspiriertheit der Schreibenden, reichten thematisch von Respekt, Vielfalt, Liebe, Karma, Wissbegierde über andere Kulturen und Glaubensweisen, rituelle Blasenbildung bis hin zu der Erkenntnis, das ohne Zuhören und Innehalten nichts geht: wie soll man sonst etwas lernen, verstehen? Eine junge Syrerin brachte es auf den Punkt: „Denn am Ende sind wir alle Menschen und haben ein Herz.“

Ein sehr gelungener Workshop, der vieles nur anreißen konnte, so dass der Ruf laut wurde, hieraus vielleicht sogar eine ganz eigene philosophisch-theologische Reihe zu entwickeln. Dem BÜZ und seinen Referierenden gehen die Ideen jedenfalls nicht so schnell aus.

Marcus Neuert

Lieber Gott,

der Volker hat gesagt, ich soll Dir einen Brief schreiben. Ich wollte das schon lang, aber das ist nicht so einfach. Ich wüsste ja nicht mal, wohin ich ihn schicken soll. An Gott im Himmel? Ich glaube nicht, dass Du irgendwo da oben bist. Du bist eher in allem; gar keine eigentliche Person. Aber auch nicht nur in dem, was uns materiell umgibt, in Bäumen, Vögeln oder dem Dackel von Frau Neumann. Auch in den Gedanken, den Gesprächen, dem, was man nicht greifen kann, was aber unser Leben bestimmt. Wie schreibt man so jemandem einen Brief? Der Pfarrer predigt die Liebe in Deinem Namen, andere werfen Bomben in Deinem Namen. Du bist offenbar für jeden Menschen etwas anderes: die Vorstellung, die sie von Dir haben, die sie an den Himmel, in ein Lied, in einen Dialog oder nur tief in sich selbst hinein projizieren. Und das alles zusammen bist Du? Oder alles einzeln? Vielleicht bist Du das, was jemand mal über das Rätsel an sich geschrieben hat: Aufhören, Antwort zu suchen. Die Schönheit der Fragen erkennen.


DAS MODERNE MÄRCHEN VON ERICH KÄSTNER

Workshop mit Doris Pütz am 20.08.2021

In Kooperation mit Doris Pütz moderierte Gitte Michusch diesen Workshop. Das Interesse und die Nachfrage nach diesem Workshop waren groß, so dass dieser Nachmittag von Motivation, Schreibdrang und dem Wunsch des Vortragens gefüllt war.

Im Kontext der Interkulturalität fragte Gitte Michusch die anwesenden syrischen Kultur-Scouts zunächst nach ihrer Hintergrunderfahrung zu Märchen im arabischen Lebensraum, auch unter dem Gesichtspunkt der berühmten Märchen und Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. In der Gesprächsrunde kristallisierte sich heraus, dass viele Märchen universellen Charakter haben, lediglich die Erzählperspektive berücksichtigt im Einzelfall andere Schwerpunkte, Das jeweilige Narrativ ist den örtlichen und kulturellen Gegebenheiten angepasst, zum Beispiel bei der Verwendung von Namen und Örtlichkeiten.

Gitte Michusch erläuterte in einem Vortrag zunächst allgemein den Plot eines Märchens: Häufig begonnen mit Es war einmal und der Erzeugung von Spannung, ängstlicher Erwartungshaltung oder Geborgenheit und Auflösung des Spannungsfeldes in einem (häufig) guten Ende. Natürlich darf die Moral von der Geschichte nicht fehlen. Die Tradition des Märchenerzählens war in vergangenen Jahrhunderten von fundamentaler Bedeutung. Vornehmlich im Winter traf sich die (Groß)-Familie hinter dem Ofen oder in der Spinnstube bei handwerklichen Arbeiten. Kinder hörten den Geschichten zu.

Im Speziellen erläuterte die Moderatorin das Märchen von der Frau Holle. Dabei erläuterte sie den Zusammenhang zwischen der Bedeutung des Holunderbusches und der Holla (Frau Holle). Darüber hinaus fand das Buch Tao Te Puh von Benjamin Hoff eine besondere Widmung, handelt es sich doch hier um grundlegende Lebensprinzipien des Taoismus. Es sollte eine Pflichtlektüre für alle sein, die sich nach mehr innerem Reichtum und Glück in ihrem Leben sehnen. In erster Linie lehrt es die Kunst der Meditation und Reflektion, was gleichbedeutend ist mit einem Weg zu Frieden, Glück und Erfüllung.

Die Anwesenden hörten den Erläuterungen höchst motiviert zu und es entwickelte sich im Workshop ein fundierter Austausch eigener Erfahrungen und Traditionen. 

Nun galt es aber auch dem Titel des Workshops gerecht zu werden: Das moderne Märchen von Erich Kästner.

Dabei las Gitte Michusch das Märchen vom Glück, in dem es um drei Wünsche geht, unvollendet vor und es sollte vom Publikum kreativ ein mögliches Ende mit einem dritten Wunsch erzählt werden.

Kurz sei hier das Setting des Märchens beschrieben. Der Ich-Erzähler der Kurzgeschichte unterhält sich in einer Kneipe mit einem alten Mann über das Glück. Ihm scheint, dass dieser sein Glück bereits gefunden hat. Daraufhin erzählt ihm der Unbekannte seine Geschichte: Als junger Mann ist er sehr unglücklich gewesen. Bis eines Tages ein alter Mann zu ihm gekommen ist und gesagt hat, er habe drei Wünsche frei, damit er endlich glücklich werden würde. Zunächst hat der junge Mann dem Alten nicht geglaubt und gewünscht, dass er zum Teufel gehen solle. Kaum hatte er diesen Wunsch ausgesprochen, ist der alte Mann bereits verschwunden. In diesem Moment hat der Zurückgebliebene realisiert, dass er wirklich drei Wünsche frei hat. Vom schlechten Gewissen geplagt hat er seinen zweiten Wunsch geäußert und den alten Mann zurückgewünscht (Quelle: www.school.scout.de). 

Nach der Schreibphase konnten die Ergebnisse vom Dach des Kultur-Containers vorgelesen werden. Nach der kurzen Arbeitsphase wurden wieder einmal erstaunliche Ergebnisse präsentiert. Es wurde erzählt vom Reichtum und der Gier, vom Weltfrieden, der Gerechtigkeit, der Gesundheit und der Liebe. Ein Ende des modernen Märchens behandelt den kleinen glücklichen Wunsch einer Kugel Eis, nachdem zuvor andere Optionen ausgeschlossen worden waren. Ein anderes Ende beschrieb den bösen Wolf, der im Armani-Anzug erscheint. Wem gilt mehr Vertrauen? Einem Bettler, einem Hartz4-Empfänger oder einem Konzernboss? Peter Küstermann gelang eine besonders gut vorgetragene Abwandlung von Der Bär, der kein Bär bleiben wollte

Volker Papke-Oldenburg

Drei Wünsche oder die Suche nach dem Glück

von Doris Pütz

Viele Märchen greifen das sicher typische menschliche Streben nach Glück auf, das sich einstellen soll, wenn unsere Wünsche erfüllt werden.

Die Frage, die sich mir in erster Linie hier stellt ist:

Macht es mich glücklich, wenn meine Wünsche erfüllt werden?

Und eine zweite Frage:

Kann man im Leben bis an sein Ende ohne Wünsche sein, ohne Streben und dabei glücklich sein?

Schauen wir auf das Thema Wunscherfüllung und Glück:

In unserer Gesellschaft, die geprägt durch Konsum ist, wird uns ständig vermittelt: Das neue Handy brauchst du um tolle Fotos zu machen und das macht dich glücklich, diese Kleidung, dieser Urlaub, dieses Auto…

Bleiben wir beim Handy. Wir erwerben es und schon nach einigen Tagen, vielleicht, ganz vielleicht erst nach einigen Wochen: Es wird zur Selbstverständlichkeit. Das Gefühl etwas Tolles zu haben verblasst zusehends und in uns entsteht der Wunsch nach neuem Glück. Es gilt etwas Neues zu kaufen, ein unendlicher Kreislauf. Und ich glaube, dieses Gefühl der Zufriedenheit beim Kauf der Dinge schwindet dann immer mehr. Nicht zuletzt versuchen wir auch in der Erziehung unserer Kinder das Wort Verzicht umzusetzen, weil wir wissen nur über Verzicht und Aufschub von Wünschen kommen wir überhaupt zu dem Gefühl  glücklich und zufrieden zu sein.

Aber wie steht es um Wünsche und Streben nach Glück, das sich auf nicht Materielles bezieht, wie Nähe, Liebe, freundliche Worte, Freude an der Natur, an kulturellen Erlebnissen….Ich glaube, dass wir hier, wenn wir mit offenen Augen und Herzen leben, tiefe Glücksgefühle empfinden können.

Und so kommen wir zur zweiten Frage, die ich stellte:

Ich vermute, dass wir sterben werden, wenn wir keine Wünsche mehr haben. Ein Leben ohne Ziele, streben nach, wünschen von, es erscheint mir tot. Wenn wir all dies nicht mehr in uns haben, ich weiß nicht, was dann bleibt, um das Gefühl des Glückes zu finden, ich weiß nicht, was dann bleibt um weiter zu leben. Und ich glaube, dass viele Menschen nicht nur körperlich sterben, sondern dann, wenn nichts mehr da ist, wonach sie streben können.

Gewiss ist Glück nichts, was ein Dauerzustand ist. Das wäre sicherlich auch unerträglich. Wir sind als Mensch auf Hoch und Tief angelegt, weil wir Glück nicht empfinden können, wenn wir die Tiefen des Lebens nicht erfahren. Dennoch sehnen wir uns stets danach glücklich zu sein und traurige Lebensabschnitte hinter uns zu lassen.

Es ist nicht immer leicht das Leben so anzunehmen wie es ist und da helfen uns Geschichten, in denen wir drei Wünsche frei haben.

Und

wäre ich heute  in einem Märchen und hätte drei Wünsche frei:

Ich wünsche mir wieder gesund zu sein

Ich wünsche, dass sich in Afghanistan die schreckliche Situation bessert

Ich wünsche mir, dass mein letzter Wunsch unerfüllt bis an mein Lebensende bleibt, so dass ich das Streben nach Glück nie verliere.  


WAS SOLL ICH TUN? „GEDANKEN-BRIEFE AN MEIN GEWISSEN“

Philosophischer Workshop mit Volker Papke-Oldenburg am 21.05.

Sollen oder müssen wir anderen Menschen helfen? Müssen wir uns für soziale Gerechtigkeit einsetzen und uns im Kampf gegen den Klimawandel engagieren? Was ist mit dem Schutz der Arten in Flora und Fauna? Oder mehr. Oder gilt: Ich mache nur das, was für mich oder meine Gruppe nützlich ist? Zählt nur mein eigenes Ich und mein Eigentum?

Der Schreibworkshop hatte das Ziel, verschiedene ethische Positionen kennenzulernen, zu beleuchten und zu einer kritischen Auseinandersetzung zu befähigen. Mit unterschiedlichen Zitaten für die Teilnehmer*innen sollten Gedanken-Briefe oder kurze Essay-Formen entwickelt werden, die in einem Austausch lebendige Diskussionen ermöglichen und zu mehr anregen sollten.

Philosophische Vorkenntnisse waren nicht erforderlich.


Briefe an meine Mutter – Renate Folkers' Textworkshop im Kulturzentrum BÜZ am 30.04.2021

Renate Folkers ist noch gut bekannt in Minden, hat sie doch für etwa fünfzehn Jahre hier gelebt und hier auch 2009 angefangen zu schreiben. Sie war Mitglied der hiesigen Lesebühne und verlagerte ihren Lebensmittelpunkt vor einigen Jahren nach Hannover, wo sie inzwischen vor allem als Autorin spannender hoch- und plattdeutscher Kriminalromane erfolgreich ist, die vorzugsweise in ihrer eigentlichen Heimat spielen: Renate Folkers ist auf der friesischen Halbinsel Nordstand geboren, wohin es sie auch immer wieder einmal zurückzieht. Für die aktuelle Briefe-Reihe im Kulturzentrum BÜZ hatte sie jedoch eine ganz andere, viel persönlichere literarische Form im Gepäck: „Briefe an meine Mutter“.

Wenn es um Briefe geht, geht es um eine besondere Form der Kontaktaufnahme; es bleibt mehr Zeit zur Genauigkeit als bei der direkten mündlichen Ansprache, das Nachdenken über einzelne Formulierungen nimmt größeren Raum ein. Der Brief ist auch, wie Moderatorin Doris Pütz in ihrer Einführung anmerkte, selbstentlastend, insbesondere bei einer Ansprache der Eltern, die oft Brüche und Verwerfungen thematisieren muss wie etwa bei Kafkas Brief an den Vater. Briefeschreibende geben etwas preis von sich, und nicht zuletzt, wie Goethe es formuliert hat, gehören Briefe zu den „wichtigsten Denkmälern, die der einzelne Mensch hinterlassen kann“, sei der Brief „eine Art Selbstgespräch“.

Und wie ein Selbstgespräch mutet auch der Brief an die verstorbene Mutter an, mit dem Renate Folkers beginnt. Aus der Distanz von fünfzig Jahren nach dem gemeinsamen Tod der Eltern durch einen Autounfall nähert sie sich ihrer Kindheit, die geprägt war vom frühen Tod ihrer  älteren Schwester Elisabeth. Die Mutter musste geschont werden, ein Verhältnis des Unausgesprochenen, des Schweigens und ein Gefühl ständiger Unfreiheit waren die Folgen. Erst spät konnte die Autorin damit anfangen, zu „schreiben und [zu] weinen, bis alles einen guten Platz hatte“. In Träumen erscheint ihr in einer Atmosphäre von Angst und Hoffnung das Haus der Kindheit, sie will „das Erlebte einfach nur wegschlafen“, im Wachzustand gibt sie sich Erinnerungen an die fehlende Aufmerksamkeit der Mutter hin und den fehlenden Abschluss in ihr selbst: „Mit Dir ist eine Frau gestorben, die ich nicht wirklich gekannt habe.“

Die Resonanz der Teilnehmenden ist stark und einfühlsam, viele vor allem der  Älteren fühlen sich in Eigenerlebtes zurückversetzt. Eine Teilnehmerin muss gar in einer erinnernden Gefühlsaufwallung kurzzeitig den Raum verlassen.

Im weiteren Verlauf des Briefes an die Mutter spricht Renate Folkers den emotionalen Hunger an, der andauerte, bis sie selbst Mutter war und lernte, verantwortliche Entscheidungen selbst zu treffen. Ihre Situation als Kind, „einsam und bedürftig nach Gesehen- und Liebgehabt-Werden“ mündet abends im Bett in lautes Rufen, Weinen und Beten und die Entwicklung einer nächtlichen Parallelwelt aus kleinen Wichten und Gnomen, die ihr Gesellschaft leisten und in einem Dorf unter ihrem Bett wohnen. Mit diesem „schönen Geheimnis“ sublimiert sie die Einsamkeit, fühlt sich weniger allein.

In der nun folgenden Schreibphase kamen bei den Teilnehmenden ganz unterschiedliche Ansatzpunkte für einen Brief an die Mutter zum Tragen. Während etwa eine Jugendliche mit schlichten, aber bewegenden Worten ihre offensichtlich ganz und gar ungebrochene junge Liebe zur Mutter zum Ausdruck brachte, berichtete eine Schreibende von der anhaltenden Präsenz der schon seit vielen Jahren toten Mutter. Liebe zeigen und  äußern bleibe schwer über den Tod hinaus. Manchmal geht es auch um kleine Alltagsdinge, etwa die Beichten um verlorenes Einkaufsgeld oder die verpasste Englischklausur – entscheidend ist bei allen jedoch der Anstoß, selbst den Blick zu heben und die Ansprache in einer oft schwierigen Situation zu wagen, geordneter und reflektierter, als dies mündlich möglich wäre.

Die abschließenden Rückmeldungen zeugten von der vertrauensvollen Atmosphäre, die die Runde aufbauen konnte; es sei fast wie in einem „Stuhlkreis bei der Gruppentherapie“ gewesen, befand jemand. Positiv wurden auch die vielen Ansatzmöglichkeiten und die sehr bewegenden, ehrlichen Einlassungen der Teilnehmenden bewertet. Renate Folkers' Workshop war ein gelungener Beitrag zu der Erkenntnis, wie stärkend und klärend die Form des Briefes für die Bew ltigung auch des eigenen Lebens sein kann.

(Marcus Neuert)

Schreibphase

Wo ist der Anfang des Geschehens? Wo kann etwas beginnen in mir, was noch lange nicht zu Ende ist? Vielleicht muss ich mich der Frage nähern, was mein Verhältnis zu Dir so besonders macht im Vergleich zu den allermeisten Erzählungen, die ich von anderen Menschen kenne, wenn sie sich über ihre Mütter äußern. Meistens geht es bei ihnen um eine Form von Vernachlässigung, sei es emotionaler oder auch ganz praktischer Art. Es geht um ein „zu wenig“ an Mutter. Das war nie mein Problem, von allem erinnerten Anfang nicht, im Gegenteil. Ich habe ein Gedicht von vor etwa zehn Jahren in Erinnerung, in welchem ich meine Kindheit als „überbrütet“ bezeichnet habe. Du warst das, was man vielleicht heute als „Helikoptermutter“ bezeichnen würde – eine unglaublich nervös agierende Person, ständig voller Angst vor eigenen Fehlern in Bezug auf das, was Dir offenbar von irgend woher als „gute Mutterschaft“ vorschwebte.

Du warst eine erfolgreiche Malerin, ein kreativer Geist, der in vielerlei Hinsicht auf mich „abfärbte“, vor allem später, als ich meinen eigenen Weg ins Schöpferische fand. Doch in der Kindheit war das nur sehr schwer zu ertragen. Ich, das Einzelkind, fühlte mich nie als ein eigenständiges Wesen, ich ging gewissermaßen auf in Dir. Ich war Dein Geschöpf, und das ließest Du mich immer spüren. Es gab keinen Schritt, den Du nicht überwachtest. Besonders die Zeit bis zu meinem vierten Lebensjahr bleibt zwar für mich komplett im Dunkel, ich habe (wie viele Kinder) praktisch keine eigenen Erinnerungen daran. Aber ich habe Empfindungen, die in diese Zeit zurückreichen, und die flüstern von Dingen, die ich Dir nicht zu schreiben wage, weil ich damit eine Grenze der Spekulation überschreiten würde. Noch weiß ich nicht weiter. Das ist noch kein Anfang für einen Brief.

(Marcus Neuert)